Ein letzter, feiner Kitzel von Tabubruch mag dabei sein, wenn deutsche Zeitungen den Papst als fehlbar bezeichnen. Doch für Christen ist es keine Grenzüberschreitung mehr, das religiöse Leben zu kritisieren. Ganz anders in der islamischen Welt. Hier reichen die fünf Worte »Ich glaube nicht an Gott«: Wer sie laut ausspricht, wird womöglich von der eigenen Familie verstoßen, verliert seinen Job, ja gerät in Lebensgefahr. Gegen das Bekenntnis zum Atheismus ist selbst ein Coming-out vergleichsweise harmlos – obwohl die islamischen Länder nicht eben für ihre Schwulenfreundlichkeit bekannt sind. Es ist das schärfste aller Tabus, und genau darauf zielt eine Gruppe junger Nerds mit dem »Forum arabischer Atheisten«, einer Webseite, die trotz großer Risiken für Meinungsfreiheit kämpft. Die Freidenker, die sich hier verbünden, müssen erst noch eine eigene Geistestradition begründen, das macht schon der Name ihrer arabischsprachigen Seite deutlich: »el7ad.com« ist eine lautliche Umschrift für »ilhad«, das Wort für »Atheismus« – in dem immer auch die religiöse Konnotation »Irrglaube, Ketzerei« mitschwingt.
Trotz der Gefahr, als »Ketzer« aus der Gesellschaft zu fallen, suchen die anonymen Diskussionsteilnehmer ein Gespräch jenseits der Dogmen. Sie sind das exakte Gegenbild zum Typus des glaubensfanatischen Morgenländers, der hierzulande durch die Debatten geistert. Statt arabischer Terroristen also arabische Atheisten, deren Waffe das freie Wort ist. Sie streiten offen über Politik, Wirtschaft, Kunst und entlarven die Rede von der »unüberwindlichen Kluft zwischen Orient und Okzident« als tumbe Kulturkampf-Phrase. Sie sind ein internationaler Debattierklub mit mittlerweile 15.000 eingetragenen Mitgliedern weltweit, die keinen Glauben mehr, aber eschatologische Fragen haben und oft ganz ähnlich über die letzten Dinge räsonieren wie die Philosophen des Abendlandes.
»Was ist der Sinn des Lebens?«, schreibt ein User. »Religionen gaukeln uns doch etwas vor. Das menschliche Leben ist, für sich genommen, leer, wenn wir es nicht selbst mit Sinn füllen.« Darauf ergeht die existenzialistische Antwort: »Das Leben bleibt so oder so sinnlos.« Soll heißen, wir müssen uns mit der Absurdität unserer Existenz abfinden. Camus und Sartre erleben hier, unterm Druck religiöser Denkverbote, ihre arabische Wiedergeburt.
Hinter dem Projekt steckt ein länderübergreifendes Team, das sich im Internet kennengelernt hat und die Seite seit fünf Jahren gemeinsam betreibt. Der Initiator heißt Mohamed, ist Ägypter und lebt heute in Berlin. Außerdem gehören noch ein Mann aus Jordanien sowie zwei weitere Betreiber aus arabischen Ländern dazu, die nicht genannt werden sollen. Denn Atheismus gilt als Apostasie, als Abfall vom Glauben, worauf im islamischen Recht die Todesstrafe steht. Zwar haben sich die meisten islamischen Länder von dieser koranbezogenen Rechtsprechung distanziert. Todesurteile sind nur in Ländern wie Saudi-Arabien oder Iran denkbar, und verhängt werden sie selbst dort nur in Ausnahmefällen. Trotzdem schweben Apostaten auch in jenen Staaten, die als verwestlicht gelten, in ernster Gefahr. Für Ägypten etwa erlangte der Fall des Universitätsdozenten Nasr Hamid Abu Zaid traurige Popularität. Abu Zaid trat für eine literaturkritische Auslegung des Korans ein, was ihm als Ketzerei ausgelegt wurde, da der Koran als Gottes unverfälschtes Wort gilt. Per Gerichtsverfahren wurde Abu Zaid 1995 von seiner Frau zwangsgeschieden und erhält noch heute, im holländischen Exil, Morddrohungen.
Wer angesichts dieser Lage ein Netzwerk für Gotteszweifler betreibt, ist nicht nur mutig, sondern Avantgarde. Allerdings herrscht auf el7ad.com keine Kampfesstimmung, sondern ein starker Friedenswille. Der immense Druck, öffentlich nicht vom Islam abzuweichen, soll nicht in einseitige Schelte gegen Gläubige münden. »Wir sind eine Gruppe von Atheisten, die nach Meinungsfreiheit streben«, heißt es in einer Präambel der Seite, »viele glauben fälschlicherweise, wir seien Feinde der Religion. Dabei wollen wir niemandem unsere Ansicht, dass Gott nicht existiert, aufzwingen. Wir glauben an Frieden.« Solche Spielregeln haben die Betreiber gleich zu Anfang formuliert. Denn das Forum ebenso wie sein Gründer will mit der muslimischen Welt in Kontakt bleiben. Mohamed sitzt in seiner Zweizimmerwohnung in Berlin, in einem düsteren Wohnraum, voll gestapelt mit Festplatten. Der Informatiker hat auch Theaterwissenschaften und BWL studiert; seine Überzeugung, dass es keine Seele und keinen Gott gibt, sondern nur Bewegungen von Molekülen, hat sich über Jahre aufgebaut. Als Jugendlicher war es selbst noch gläubig, bis heute betört ihn die sprachliche Schönheit des Korans, den er, ganz unironisch, sein »Lieblingsbuch« nennt. Er kann Muslime verstehen, weil er selbst einer war, doch Vorschriften, was er zu glauben habe, lässt er sich nicht mehr machen.
»Meine Familie ahnt, dass ich nicht an Gott glaube. Aber wir schweigen«
Einen echten Bekennerakt als Gotteszweifler, außerhalb des Internets, wagte er vor Jahren gegenüber seinem Onkel, einem belesenen und weltoffenen Muslim. Mohamed erklärte damals, er halte den Propheten, dessen Namen er trägt, für einen »großen Sozialreformer«, allerdings habe der als Politiker »etwas von einem Machiavelli«. Dieser wohlbedachte Satz kippte sofort das Gespräch. Der Onkel brach den Kontakt für Jahre ab.
Mohameds Courage, eine revolutionäre Internetseite zu gründen, fällt nicht zufällig mit dem neuen Selbstbewusstsein vieler arabischer Jugendlicher zusammen. Sie sind beflügelt von der Chance grenzenloser Kommunikation und lieben die virtuelle Welt, in der Blogs als realpolitische Waffe dienen. Das Beispiel Kairo zeigt, an wie vielen Stellen die Stimmung brodelt: Dort wird nicht nur eine permanente Onlineradiosendung zum Tabuthema »Scheidung auf Initiative der Frau« produziert; dort bloggen Anhänger der Minderheitsreligion der Bahai über Diskriminierung im Alltag; dort sorgten Handyvideos von Folterszenen für die spektakuläre Entlassung eines Polizisten – und das im Polizeistaat Ägypten! Regelmäßig zieht die Jugend durch Kairos Straßen, Banner schwenkend, Sprechchöre schmetternd. Ein Aufbruch ist spürbar. Und doch müssen selbst unter Bloggerkollegen die Atheisten inkognito bleiben.
Das gilt auch für M., eine Frau, die im Forum schreibt und aus einer liberalen Familie stammt. Ihre Mutter trägt kein Kopftuch, eine Schwester ist Filmschauspielerin. »Meine Familie ahnt vielleicht, dass ich nicht an Gott glaube. Aber wir würden niemals offen darüber reden.«. Für arabische Atheisten, die in der Hölle der Sprachlosigkeit schmoren, ist das Internet ein wunderbarer Ausweg. »Die Frage, ob Gott existiert, interessiert mich zwar nicht, doch sie bestimmt mein Leben«, schreibt eine wütende Userin, die offenbar aus einem sehr restriktiven Land, vielleicht Saudi-Arabien, stammt. »Trotz Globalisierung darf ich nicht ohne Zustimmung meines Mannes reisen. Frauen bleiben hinter einer Mauer aus Angst gefangen, weil ihnen der Glaube an sich selbst fehlt.« Die Verzweiflung der Schreiberin wird zunächst von einem Mann barsch gekontert, der behauptet, es zähle nicht, was der Mensch wolle, sondern was im Koran stehe. Dann empfiehlt er ein umstrittene Sure zum Umgang mit widerspenstigen Gattinnen: »Ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie!« Doch statt Beifall kommt nun heftiger Widerspruch eines anderen männlichen Users, der sich bei der Frau bedankt: »Ich bin wirklich betroffen. Ihr Text erinnert mich daran, dass es harte soziale Gründe gibt, Atheist zu sein.« Im Handumdrehen bricht dieser Wortwechsel mehrere Tabus. Frauen, die mancherorts nicht einmal allein Auto fahren dürfen, stellen selbstbewusste Forderungen; Männer können deren emanzipatorischen Gedanken ohne Gesichtsverlust zustimmen; Ungläubige und Muslime begegnen sich nicht nur in abgekarteten Gerichtsverfahren, sondern im freien Austausch der Argumente.
Die Souveränität der Atheisten erweist sich gerade dann, wenn sie auf Muslime reagieren. Zu deren Lieblingsthemen gehören die »Wunder des Korans«, die angeblich moderne wissenschaftliche Erkenntnisse vorwegnahmen, so auch der Vers: »Sehen die Ungläubigen nicht, dass Himmel und Erde eine feste Masse bildeten und wir sie dann spalteten?« Dazu postet ein Muslim triumphierend, der Koran beschreibe den »Big Bang«, die heute gültige Theorie zur Entstehung des Universums. In ähnlicher Manier werden weitere Suren auf Roboter und Flugzeuge bezogen. Die Atheisten reagieren mit Humor und spitzer Koran-Exegese, um die Orthodoxen mit deren eigenen Waffen zu schlagen.
»Ich verachte Ihre Meinung, aber sie muss gesagt werden dürfen«
Trotzdem bilanzieren die Erfinder der Website zaghaft: »Man darf die Freiheitserwartungen nicht überziehen. Europa hatte schließlich mehr als zweihundert Jahre Zeit.« Gemeint ist natürlich die europäische Aufklärung, von der es oft gönnerisch heißt, die islamische Welt müsse sie noch »nachholen«. Vergessen wird dabei gern die Mu’tazila, jene Theologie, die zwischen dem 8. bis 12. Jahrhundert einen »logischen Islam« suchte und den Koran rational auslegte. An diese Tradition wollen die Internetaktivisten anknüpfen, allerdings auf eigene Weise. Denn die Mu’tazila war eine elitäre Bewegung, die zeitweise sogar per Inquisition den Strenggläubigen nachstellte. Arabische Atheisten des 21. Jahrhunderts aber bevorzugen den Dialog. Der jordanische Mitbegründer von el7ad.com beruft sich am liebsten auf Voltaire: »Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen.« Ein Sieg der Toleranz ist, wovon die Computer-Gottlosen träumen.
Dies spüren denn auch die Aktivisten des »elektronischen Dschihad«. Täglich versuchen islamistische Nerds, die Seite zu sabotieren. Sie simulieren Massenzugriffe, als würden Hunderttausende User gleichzeitig auf die Seite drängen, das soll den Server schwächen, damit die Dschihadisten eindringen können – um Debattentexte zu löschen oder gar Autoren zu identifizieren. Bislang prallten die Attacken ab, denn einer der Betreiber ist hauptberuflich für IT-Sicherheit zuständig. Erwischt hat es jedoch Mohamed, als er eine »Atheisten-Zeitung« online stellte, die er nur an die Forumsseite anlehnte. Er nutzte nicht den sicheren Server, über den das Forum läuft, und plötzlich standen sein Klarname und seine Berliner Adresse im Internet. Seine Gegner outeten ihn als Atheisten und warnten über Facebook: »Wir wissen, was du tust, komm auf den rechten Weg zurück!«
Mohamed liest das als Morddrohung. Doch einschüchtern lässt er sich nicht. Er schreibt in anderen Foren als bisher und vermeidet provozierende Pointen, denn sein Ziel ist nicht, die eigene Meinung effektvoll zu propagieren – er möchte etwas bewegen. »Wenn ich schreibe: Ich glaube nicht an Allah, dann liest ja kein Muslim weiter«, sagt er. Lieber kritisiert er al-Qaida und den wahhabitischen Fundamentalismus. Neulich hat er einen Aushang gesehen, ganz altmodisch auf Papier, dass sich am Prenzlauer Berg regelmäßig eine Atheistengruppe treffe. Zu der will er nun Kontakt aufnehmen. Sie mag christlich geprägt sein, aber Mohamed ist immer offen für neue Wege.